Walburga


Reportage, Germany, 2022

Nachdem Faust, von Mephisto geleitet, Gretchens Bruder Valentin mit einer Klinge tödlich verletzte, fliehen die beiden in die Walpurgisnacht. Jedes Jahr feiern die Hexen in der Nacht zum ersten Mai auf dem Brocken im Harz ein euphorisches Fest mit viel Feuer, wilden, hemmungslosen Tänzen und sexuellen Exzessen. Das soll Faust von den Geschehnissen und von Gretchens Schicksal ablenken.1

Kurz vor seinem Tod hatte sich Johann Wolfgang von Goethe in seinen beiden Teilen von „Faust“ mit Hexensagen beschäftigt. Der Brocken ist Mittelpunkt der Sage und ist weithin auch als Blocksberg bekannt. Anders als in dem Mythos beschrieben, glaubt man heute zu wissen, dass die „Hexen“ nicht dorthin geflogen sind. Die Frauen trugen auf ihre Haut und Besen spezielle „Hexensalben“ auf. Darin enthaltene Giftstoffe wirkten berauschend. Durch halluzinogene Inhaltsstoffe befiel sie ein Gefühl, als würden sie schweben oder gar fliegen. Das und die damit verbundene Enthemmung führten dann mit aller Wahrscheinlichkeit dazu, dass diese wilden Orgien auf dem Blocksberg gefeiert wurden.

Eine Spurensuche nach der Teufelshochzeit führt vom Startpunkt der Sage in Thale durch den Harz bis auf den Gipfel des Brocken. Entlang des sogenannten „Hexenstiegs“ fuhren wir mit einem geliehenen Auto die Dörfer ab. Wir wollten möglichst den selben Weg nehmen, den auch die Hexen eingeschlagen haben sollen.

Im Süden Deutschlands fast gänzlich unbekannt, herrscht hier ein regelrechter Kitsch-Kult rund um die Walpurgisnacht. In jedem noch so kleinen Ort wird gefeiert. Mancherorts gibt es Walpurgis-Feuer. Man hängt sich billig produzierte Hexenfiguren ans Vordach oder ins Fenster zur Straßenseite. Als hätten sich alle das ganze lange Jahr über nur auf diese eine Nacht vorbereitet. Zwischen Kommerz und Kitsch finden sich aber doch immer wieder Menschen, die es mit der Mythologie ernst nehmen. Lässt man die selbst gebastelten oder heutzutage von Amazon binnen 24 Stunden gelieferten Kostüme hinter sich, stellt sich schnell eine andere Sichtweise auf die Sagen und Bräuche ein.

Noch vor fast 250 Jahren verurteilte man Frauen und Mädchen zu Tode, wenn man sie für Hexen hielt. Die Hexenverbrennungen sind uns allen ein Begriff. Gleichzeitig erstaunlich und bedauerlich ist auch, dass der Wahrsagerin und Geisterbeschwörerin Helen Duncan vor nicht einmal 80 Jahren in Schottland der Prozess gemacht wurde. Für ihren Glauben an Hexen und Geister verurteilte man sie zu neun Monaten Haft. Und heute werden in Schierke am Fuße des Blocksbergs wieder Hexenfiguren zur Dekoration an Laternen aufgehängt. Auch wenn das vor dem Hintergrund der Hexenverfolgung die falsche Message ist. Vielmehr soll es bei den Feierlichkeiten um die Freiheit der Frauen gehen - Zu tun und zu lassen, was ihnen gefällt. Das wird nicht nur geduldet, sondern gefeiert.

Auf dem Gipfel des Blocksbergs soll um Mitternacht die Vermählung der Hexen mit dem Teufel stattfinden. So die Sage. Wir entsagten den Verlockungen des Walpurgis-Festivals in Schierke, um uns an unseren nächtlichen Aufstieg zu machen. Es war eine regnerische, besonders
dunkle, wolkenverhangene und nicht nur dadurch ungemütliche Nacht. Aufgrund der Witterungsverhältnisse erreichten wir unser Ziel schließlich zehn Minuten zu spät. Wir fanden keine Menschenseele vor. Keinen Teufel, keine Hexen und auch nicht einmal die Spuren einer Orgie. Völlig nüchtern, kalt und fast wie ein Symbol des männlichen Sieges im ewigen  Geschlechterkampf: Die Wetterstation und das Brocken-Hotel. Graue Phallus-Symbolik im eisigen Wind.

Haben wir die Orgie etwa um Minuten verpasst?

1    Vgl.: Komp, Andrea: Mentor Lektüre. Faust I. Johann Wolfgang Goethe. Inhalt, Hintergrund, Interpretation. München: Mentor Verlag, 1996. S. 21.


This work was created as part of a seminar in the course "visual journalism and documentary photography".
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